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Alternativtext

„In der Minderheit“ – Sinti und Roma in Deutschland

Bundesweit wird die Zahl der Sinti und Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit auf etwa 80.000 bis 120.00 geschätzt. Als deutsche Sinti bezeichnet sich eine Minderheit, die seit über 600 Jahren in Deutschland lebt. Ihre Vorfahren verließen, wie die der Roma, vor etwa 1.000 Jahren ihre Ursprungsheimat, die der Sprachforschung zufolge im heutigen Nordwestindien und Pakistan liegt.

Die deutschen Roma kamen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach der Abschaffung der Leibeigenschaft in Moldawien und in der Walachei sowie im Zuge des Ersten und Zweiten Weltkrieges nach Deutschland. Roma, die in den 1960er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, besitzen größtenteils die deutsche Staatsbürgerschaft. Darüberhinaus kamen viele Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge seit den 1980er Jahren aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten nach Deutschland. Die überwiegende Mehrheit dieser von der Abschiebung bedrohten Menschen besitzt nur eine begrenzte oder gar keine Aufenthaltsgenehmigung. Seit der EU-Erweiterung 2000 befinden sich mehrere Tausend Roma aus anderen europäischen Nachbarstaaten in Deutschland.

Schon seit ihrer Ankunft in Deutschland im 15. Jahrhundert sahen sich Sinti (und später auch Roma) sehr bald wechselnden negativen Einflüssen und ausgrenzenden Stereotypen ausgesetzt. In der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik war die "Zigeunerpolitik" vorrangig auf Vertreibung ausgerichtet. Dies äußerte sich in Sonderverordnungen, die sich überwiegend gegen Gewerbetreibende richteten und in erster Linie die Zerstörung ihrer kulturellen Lebensformen zum Ziel hatten. Zudem begann die polizeiliche Erfassung, z.B. durch die bayerische „Zigeunerpolizeistelle“, die als Teil der Vorbereitung des nationalsozialistischen Völkermordes an Sinti und Roma angesehen werden kann

In der NS-Zeit

In der NS-Zeit hatten Sinti und Roma in einem für sie bisher nie gekannten Ausmaß unter Erfassung, Verfolgung und Vernichtungsaktionen durch die Nationalsozialisten zu leiden. Die gegen sie gerichtete Rassenpolitik, die durch so genannte Rassenforscher wie Dr. Robert Ritter und Eva Justin gestützt wurde, legitimierte nicht nur Zwangssterilisationen, sondern auch die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Als Rechtsnachfolgerin des „Dritten Reiches“ zeigte die Bundesrepublik Deutschland noch bis in die 1970er Jahre weder beim Entschädigungsproblem noch auf dem Gebiet der Rechtsprechung das erforderliche und angemessene Verantwortungsbewusstsein für die an den Sinti und Roma begangenen Verbrechen. Exemplarisch lässt sich dies anhand der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) zeigen.

Das höchste deutsche Gericht, damals noch mit Juristen besetzt, die ihre berufliche Sozialisation im Unrechtsstaat Hitlers erfahren hatten, hielt noch bis in die 1960er Jahre an der Formel fest, dass nicht „die Rasse als solche den Grund für die gegen die Zigeuner getroffenen Maßnahmen“ gebildet habe, sondern dass der Grund „in den asozialen Eigenschaften der Zigeuner“ liege (BGH, Urteil vom 01.03.1961). Deutlich erkennbar ist hier das fehlende Problembewusstsein staatlicher Autoritäten, das das nahtlose Anknüpfen an die Unrechtspraxis des NS und die mit ihr verbundene Entrechtung von Sinti und Roma ermöglichte, ohne falsche – vom Ungeist des Nationalsozialismus und früherer Ideologien geprägte - Darstellungen auch nur im Ansatz zu hinterfragen.

Nicht allen Opfern widerfuhr Gerechtigkeit

Nicht allen Opfern des Nationalsozialismus widerfuhr Gerechtigkeit. Diese Erfahrung machten Sinti und Roma in spezieller Weise. Die Frage der „Wiedergutmachung“ war in vielerlei Hinsicht problematisch. Der bürokratische Aufwand bei der Antragstellung bedeutete für viele Sinti und Roma eine unüberwindbare Hürde. Misstrauen und Angst gegenüber den Behörden waren so groß, dass viele ihre berechtigten Ansprüche erst gar nicht geltend machten und es später außerordentlich schwer hatten, ihre Entschädigungsansprüche durchzusetzen.

Darüber hinaus hat die jahrhundertelange und bis heute andauernde Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik in Form von individueller, institutioneller und politischer Diskriminierung in Deutschland und der Versuch ihrer vollständigen Vernichtung im „Dritten Reich“ weit reichende Folgen für ihre ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen. Sinti und Roma unterliegen vielfach sozialer Ablehnung, wirtschaftlich-beruflicher Benachteiligung sowie kultureller und politischer Unterdrückung und sind zumindest partiell von der Teilhabe und der Mitwirkung an der Mehrheitskultur ausgeschlossen. Das spüren Sinti und Roma beispielsweise bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Wohnung, bei Gaststättenbesuchen oder in Geschäften.

Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung

Die Sinti und Roma, die den Nationalsozialismus überlebt haben, sind durch ihre traumatischen Erfahrungen auf eine so nachhaltige Art und Weise geschädigt worden, dass ihr Vertrauen in die bundesrepublikanische Gesellschaft gestört ist. Das Erlebte schädigte aber nicht nur die Überlebenden des Holocaust. Auch das Bewusstsein der zweiten und dritten Generation ist von der Erfahrung geprägt, in dieser Gesellschaft Teil einer bedrohten Minderheit zu sein. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung in den späten 1970er Jahren in Deutschland machten Sinti und Roma unter anderem darauf aufmerksam, dass sie die Bezeichnung „Zigeuner“ ablehnen. Dies hat sich letztendlich auf politischer Ebene durchgesetzt und ist vergleichbar mit der Forderung der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den USA, die in den 1960er Jahren erreicht hat, dass die Bezeichnungen ”Neger” oder ”negro” als diskriminierende Begriffe nicht mehr verwendet werden sollten.

Dessen ungeachtet sehen sich Sinti und Roma immer noch genötigt, um die Anerkennung ihrer Eigenbezeichnung zu kämpfen. Dies offenbarte sich insbesondere im Streit um die Gestaltung des Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma Europas, in dem Begriffe wie „Zigeuner“ und „Zigeunermischling“ zur Disposition standen, was eine demütigende und der Opfer unwürdige Debatte auslöste. Der andauernde Versuch, Sinti und Roma als „Zigeuner“ zu bezeichnen, negiert die Eigenbezeichnung und verdeutlicht die noch immer stattfindende Unterdrückung eines Volkes, dem das Recht auf seine ursprüngliche, in der eigenen Sprache tradierte Bezeichnung abgesprochen wird.

Petra Rosenberg